Ich denke, das spielt die Diskrepanz zwischen "Essen müssen" bei den Altvorderen und "Genießen können" bei den Jungen eine ganz gewaltige Rolle.
Zumindest hierzulande war früher das Essen eher als (lästige) Notwendigkeit angesehen worden, und es zu genießen war von vorneherein nicht notwendig, wenn nicht sogar leicht anrüchig. Ich selbst kenne noch einige "Fälle", für die Essen eine lästige Zeitverschwendung ist, und für die die höchste Form des kulinarischen Genusses ist, sich in kürzester Zeit mittels einer Haxe mit Kraut so viele Kalorien wie möglich einzuverleiben wie nur irgend möglich (für die schlechten Zeiten, die danach kommen könnten oder so
).
Auch das ist historisch bedingt, denn früher hat man eben so viel wie geht in sich hineingestopft, weil man nicht unbedingt wußte, ob der Tisch irgendwann mal wieder so reich gedeckt sein würde oder ob nicht Notzeiten kommen würden.
Meine Mutter war, als sie meinen Vater kennenlernte erstaunt, wie lustvoll man an Essen herangehen kann; sie kannte das aus ihrem Elternhaus nicht.
Logisch, daß dann hurtig geerntete Brennesseln irgendwie zusammengekocht ganz anders schmecken als wenn man sich die Zeit nimmt, wirklich nur die jungen, zarten Blätter abzuernten und diese entsprechend behutsam zuzubereiten. Mein erster Versuch mit Vogelmiere war auch eher bescheiden, weil ich zu faul gewesen war, nur die wirklich jungen Stengel zu nehmen und einfach die Pflanzen ausgerissen hatte.
Es kommt nicht von ungefähr, daß Gemüse, die bei uneren Eltern bzw. Großeltern verpönt waren, jetzt endlich rehabilitiert werden. Wer aus schierer Not jahrelang nichts anderes als Kohl und Steckrüben zu Essen bekam, dem schmeckt das wahrscheinlich heute nicht mehr bzw. immer noch nicht wieder. Wer bei bestimmten Lebensmitteln schlechte Zeit und Krieg assoziiert, dem *können* diese Lebensmittel nicht schmecken!
Hinzu kommt: Wenn ich mich mit Grausen erinnere, was meine Großmutter dem Wirsing angetan hat und ich keine anderen Zubereitungsarten kennengelernt hätte, dann würde mir wahrscheinlich auch allein beim Gedanken an Wirsing schlecht. Und es gibt absolut nichts Geileres als den erntefrischen Wirsing und Weißkohl, der gerade jetzt auf den Wochenmärkten zu finden ist, oder Spitzkohl (Filderkraut), bevor das in den Sauerkrautfabriken verschwunden ist.