Die zur Zeit in mehreren Teilen der Welt zu beobachtende Renaissance einer gewissen Nationalität hat vermutlich wirklich weniger rein monetäre Vorteile im Fokus. Betrachtet man die Briten, erwartet sie ja schließlich erstmal nur etwas zwischen ökonomischem Desaster oder jedenfalls massiver Verschlechterung. Gleichwohl ist das von mehr als der Hälfte der Bevölkerung gewollt und wird sehenden Auges in Kauf genommen.
Nein, das ist nicht gewollt und wird nicht in Kauf genommen, denn man hat den Leuten erzählt, daß das nicht eintreten würde. Sämtliche Warnungen sind von den Brexiteers als "project fear" verunglimpft worden. Stattdessen hat man den Leuten versprochen, daß der "easiest deal in history" ihnen alle Vorteile der EU sichert, aber zusätzlich die Möglichkeit, als Drittstaat eigene Verträge machen zu können. Das war alles gelogen. Meinst du, "leave" hätte 52% bekommen, wenn man den Leuten die Wahrheit gesagt hätte?
Mal abgesehen davon, daß "leave" äußerst simpel argumentiert hat. "Take back control", aber was genau heißt das? Was wollen sie stattdessen? Mitgliedschaft in EFTA? Die EFTA-Staaten implementieren fast alle EU-Regularien und zahlen Beiträge. Ist das "taking back control"?
Viele Brexiteers argumentieren, daß sie keine Verträge brauchen, sondern nach WTO-Regeln handeln können. Ein Witz. Die EU vertritt ihre Mitgliedstaaten bei der WTO. Verlassen die Briten die WTO, müssen sie selber dort beitreten und für 7000 Produktgruppen Anträge stellen. Das alleine dauert Jahre. Dazu kommt, daß die anderen WTO-Mitglieder zustimmen müssen und einige schon angekündigt haben, daß sie das nicht tun werden. Und selbst wenn sie MItglied sind, beudeten WTO-Regeln Zollgrenzen und die damit verbundenen Nachteile im Handel mit der EU.
Hat das irgendein Brexiteer mal erklärt? Keineswegs.
Hat denen jemand erklärt, daß die japanischen Autokonzerne dort nur deshalb sind, weil UK ein Brückenkopf in die EU ist? Nissan sagt nun, daß die Zukunft der Fabrik in Sunderland auf der Kippe steht? Hat ihnen jemand erklärt, daß Auto-Produktion "just in time"-Anlieferungen benötigt, was mit einer Zollgrenze nicht funktioniert? In den Augen der Brexiteers alles Übertreibungen. Nun tritt alles genau so ein.
Hat ihnen jemand erklärt, daß z.B. Indien nur einen Handelsvertrag macht, wenn sich UK bei Einwanderung großzügiger zeigt. Gefällt das den Brexiteers, für die das Votum vor allem eins gegen Einwanderung von Menschen mit dunkler Hautfarbe war?
Hat denen jemand erklärt, daß ihnen der EU-Austritt keinerlei zusätzliche Mittel gegen diese Einwanderung gibt und sie sich dem sogar öffnen müssen, wenn EU-Bürger wegbleiben und Handelsparter Einwanderung zur Bedingung machen?
Es muss also um ein geglaubt höherwertiges Ziel gehen. Ich denke, es handelt sich dabei um ein erwachtes Bewusstsein dafür, dass die kulturelle Identität aus Sicht derer, die diese für sich bewahren möchten, zu sehr für das größere Ganze bzw. den gemeinsamen ökonomischen Markt aufgeweicht bzw. aufgelöst wird oder es sogar schon übermäßig wurde.
Das ist ein besonderer Witz. Die EU gibt in Großbritannien mehr Geld für die Bewahrung bedrohter Sprachen aus als die Briten selber. Die Briten haben noch im 20. Jh. den "welsh not" benutzt, den sich Kinder umhängen mußten, wenn sie in der Schule walisische Wörter benutzt haben.
Lies mal, wie Brexiteers reden. Die reden nicht vom "United Kingdom". Die reden von "England" und geben einen feuchten Furz auf Nordirland oder Schottland.
Gerade in Ländern mit ursprünglich starker Tradition ist vielen aber die spezielle traditionelle Ausprägung des Lebens im eigenen Land wichtiger, als ein größeres BIP. Also back to the roots.
Das ist leider ein Ansatzpunkt, um einen negativen Nationalismus und Fremdenhass anzufeuern. Die britischen Tabloids und auch Johnson haben das gerne mit vielerlei Lügen getan. Johnson hat mal zugegeben, daß er in seiner Zeit als Brüsseler Korrespondent jede Menge Lügen verbreitet hat. Seine Entschuldigung war, daß er die Reaktionen in UK unterhaltsam fand.
Und weil die Leute das alles so langsam doch mal kapieren, liegt die Zustimmung zum Brexit auch nicht mehr über 50%, sondern irgendwo bei 45%... und weil jeden Tag ein mehr "leavers" als "remainers" wegsterben. Warum sträuben sich die Brexiteers so gegen ein neues Votum? Wenn sie so tolle Demokraten wären, würden sie eins befürworten, jetzt wo der Deal auf dem Tisch liegt.
Nun werden die Wahlen zu einem Brexit-Votum. Problem ist nur, daß Labour sich nicht klar positioniert, weil sie nicht deren Leave-Wähler verschrecken wollen. Klassische Remain-Labour-Wähler müssen also "LibDem" stimmen und in dem Mehrheitswahlrecht der Briten sind sie damit benachteiligt.