Ab dem 9. Mai 1945 waren sie alle Widerstandskämpfer. Alle Nazis waren auf einmal spurlos verschwunden.
Meine Großeltern waren keine Widerstandskämpfer, aber auch keine Nazis. Der eine Großvater war Geschäftsführer einer Firma. Die hatte das Problem, daß in der Geschäftsführung kein NSDAP-Mitglied war und deshalb einer eintreten mußte, weil sie Angst vor Enteignung hatten, wenn keiner drin ist. Wir wissen nicht genau, ob die Wahl auf ihn oder einen anderen fiel. Mein Vater hält es für möglich, aber Fakten haben wir nicht. Ansonsten hat er eben Kartoffeln verarbeitet.
Er war zu alt für die Armee. Später kam er dann zum Volkssturm am Ostwall. Das sind die Tunnel hinter der Oder - viel größer als die Maginot-Linie. Der Hauptmann hat den Kopf aus dem Ausgang gesteckt, der ihm sofort weggeschossen wurde. Sie sind dann hinter die Front geraten und er ist auf dem Rückweg von einer Granate getroffen worden. Meine Großmutter war Hauswirtschaftslehrerin und hat später die Bahnhofsmission geleitet.
Mein anderer Großvater war Sozialdemokrat und Beamter- Chef des Arbeitsamts in einer ostpreußischen Kleinstadt. Nach der Wahl 1933 hatten NSDAP-Leute die Hakenkreuzfahne auf dem Amt gehißt. Meine Großmutter meinte, der Lappen muß weg und mein Großvater hat sie mit der Begründung, daß da keine Parteifahne gehißt werden darf, abgenommen. Daraufhin ist er gefeuert worden und mußte die Stadt verlassen. Sie hatten noch eine Landwirtschaft. Da haben sie ihn in Ruhe gelassen. Bis er 1944 doch noch ins Gefängnis gekommen ist und erst durch Hilfe des Polizeichefs im Chaos der anrückende Russen rauskommen konnte. Diesem Mann hatte er mehr als 10 Jahre vorher einen Job als Hilfspolizist besorgt. Über den Draht konnte er auch schon in den Dreißigiern für einen jüdischen Nachbarn Papiere für die Ausreise nach Russland besorgen. Der Kontakt zu diesen besteht heute noch zu meinen Eltern. Das war in der DDR immer ein Problem. Die mochten keine Kontakte nach Israel. Meine Eltern waren beide nicht in den Jugendorganisationen. Von meiner Mutter weiß ich, daß mein Großvater sie nicht ließ. Mein Vater war vielleicht noch zu klein. Jedenfalls war er auch nicht drin.
Meines Großvaers Entlassung unter den Nazis ist ihm in Westdeutschland immer vorgehalten worden. Dahin waren sie in den Fünfzigern ausgereist, nachdem er aus der SED geflogen ist. Ein guter Beamter wird nicht entlassen. Dort waren die Nazis alle noch im Amt.
Und meine Mutter wußte als Zehnjährige ganz genau, daß im KZ Menschen ermordet werden. Sie hat aber auch gesehen, wie eine Frau, die Brot "fallenließ", sofort mitgenommen wurde. Sie wußte, daß ihre Eltern heimlich BBC hören und daß das gefährlich war und daß man wegen den Nazi-Nachbarn aufpassen mußte. Sie hat auch mitgekriegt, wie die jüdischen Nachbarn deportiert wurden. Sie sagt heute, wer hinterher behauptete, nichts gewußt zu haben, lügt einfach. Sie hat schon als Kind das meiste gewußt. Sie erzählt noch die Geschichte von dem alten jüdischen Mann aus der Straße, der am nächsten Tag zum Sammelpunkt sollte und ihr noch mal die Hand schütteln wollte. Sie war dann zu schüchtern und hat die Hände versteckt. Das verfolgt sie bis heute.
Für die Landwirtschaft bekamen sie irgendwann eine polnische Zwangsarbeiterin zugeteilt. Die war knapp 20. Die durfte mit der Familie essen und meine Oma hat sie manchmal ins Kino mitgenommen. Das war natürlich nicht erlaubt und ging so lange, bis eine Nazi-Nachbarin sie verpetzt haben. Das Mädchen mußte woanders hin und sie verloren sich aus den Augen. Vor ein paar Jahren ist der Kontakt wieder zustande gekommen und meine Eltern haben sie in Polen besucht. Das stand dann da sogar in der Zeitung.
Meine Mutter hatte immerhin zwei Tanten, die Hitler angebetet haben. Die waren einfach dumme Personen.