Der junge Kollege war mit seinem Mandanten extra für das Desaster aus Leipzig zum Amtsgericht Bingen angereist.
Vielleicht 35, keinesfalls älter; der dunkle Konfirmationsanzug aus Poyester paßte ihm jedenfalls noch. Mit dem ultradünnen schwarzen Schlips, - früher gab es diese Dinger sogar aus Leder - und dem weißen Hemd sah er ein bißchen aus wie von einem Blues-Brothers-Ähnlichkeitswettbewerb auf einer Dorfkirmes übriggeblieben. Er muß dort wegen seiner Socken den letzten Platz belegt haben, anders kann es nicht gewesen sein. Die Socken und vielleicht das halbe Kilo Pomade im Haar, auf jeden Fall aber die Socken. Die ganze Zeit, die er mir gegenübersaß, mußte ich auf seine Socken starren: Leuchtendes knallblau mit irgendwelchen knallgelben Comicmotiven, die auf die Entfernung nicht zu erkennen waren. Jedenfalls blitzten sie ständig zwischen Hosenrand und Schuhen heraus, wie die eingeschaltete Reklame eines Streifenwagens nachts im Frankfurter Bahnhofsviertel.
Die Richterin war sehr geduldig mit ihm. Wenn er im Schuldrecht nur ein ganz kleines bißchen besser aufgepaßt hatte, hätte er seinem Mandanten das alles ersparen können. Zum Glück hatte er bereits im Vorfeld die angebliche Forderung seines Mandanten von bizarren fast 90.000 € auf 2.000 € heruntergeschraubt. Wir hatten ihm wirklich geduldig erklärt, daß seinem Mandanten auch die zwei Großen nicht zustehen, daß ihm eigentlich nicht ein Cent zusteht. Bei der Einführung in den Sach- und Rechtsstand durch die Richterin blitzt hie und da ein schüchterner Hoffnungsschimmer in seinem Gesicht auf, wenn die Richterin auf eines seiner Argumente eingeht - nur um ihm behutsam zu erklären, daß nicht jede Idee auch eine gute Idee ist.
Immerhin ergab sich aus der Sitzordnung, daß er und sein Mandant einen tollen Blick auf das Niederwalddenkmal hatten, das ich im Rücken hatte.
Das Amtsgericht Bingen ist ein sehr deutsches Gericht. Dafür, daß das Hakenkreuz unter dem riesigen Reichsadler über dem Eingang entfernt wurde - möglicherweise liegt es in der Hoffnung auf eine mögliche spätere Wiederverwendung irgendwo im Keller- wird man mit einem herrlichen Blick auf den Rhein und eine der deutschesten Scheußlichkeiten überhaupt, das Niederwalddenkmal, entschädigt.
Die Sitzung wird schließlich auf Bitten des jungen Kollegen kurz unterbrochen. Die blauen Socken gehen mit ihrem Mandanten auf den Flur. Die Richterin und ich plaudern ein wenig über den schönen Ausblick auf den Rhein. Die Socken kommen wieder herein und erklären die Klagerücknahme, aber nur, wenn der Gegenstandswert nicht mit fast 90.000 € festgesetzt wird, sondern mit 2.000 €. Ganz kurz entgleitet mir die Contenance, und ich lasse die Bemerkung fallen, daß dem Kollegen wohl schon aufgefallen sei, daß wie hier beim Amts- und nicht beim Landgericht sitzen, und daß er sich die Frage nach dem Gegenstandswert dann ja wohl selbst beantworten könne. Kurzes Augenrollen der Richterin, dann fängt sie sich wieder und erklärt mit einer Engelsgeduld, daß der Gegenstandswert natürlich nur 2.000 € sei. Ende der Vorstellung. Traurig verlassender Kollege und sein Mandant den Saal und das Gericht. Ich schaueihnen hinterher, so lange ich die blauen Socken leuchten sehen kann, dann gehe ich zum Auto.
Ich habe einen schönen Beruf.