Die Vorstellung von dem Eigentum erstreckt sich weit über die Grenzen der gesetzlichen Ehe, sie schleicht sich auch in die freien Liebesbeziehungen ein. Die Liebenden beiderlei Geschlechts würden sich, bei aller theoretische Achtung der Freiheit, durchaus nicht begnügen mit dem Bewußtsein der physischen Treue des Liebespartners. Um das ewig drohende Gespenst der seelischen Einsamkeit von uns zu bannen, brechen wir mit einer für die kommende Menschheit unbegreiflichen Grausamkeit und Unzartheit in die Seele des von uns geliebten Wesens ein und machen unsere Rechte auf sein geheimstes geistiges ‘Ich’ geltend. Der heutige Liebhaber verzeiht unvergleichlich leichter eine physische Untreue als eine seelische, und jedes Teilchen der Seele, das der Ehegenosse außerhalb der Schwelle seines Liebestempels verschwendet hat, scheint ihm ein unverzeihlicher Diebstahl an einem ihm persönlich gehörendem Schatz zugunsten anderer.
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Alexandra Kollontai (1918): Die Geschlechtsbeziehungen und der Klassenkampf