Eigentlich ist das hier keine Frage, sondern mehr ein Versuch im therapeutischen Schreiben. Bitte um Verzeihung! Wenn es hier nicht reinpasst, gerne löschen!
Letzte Woche war sie plötzlich in meiner Selbsthilfegruppe. Ich hatte schon am Telefon das Gefühl, dass sie leidet und irgendwas sucht. Sie war so besonders über-freundlich, dass es mir aufgefallen ist. Als sie dann zu dem Treffen kam, fielen mir geradezu die Augen aus. Sie hat ihre Haare rot gefärbt und zielt auf maximale Auffälligkeit, vom Lippenstift bis zur Wahl der Hotpants. Dazu waren ihre Fingerkuppen noch vergilbt vom Rauchen. Erster Eindruck: Was will sie hier, die passt hier ganz sicher nicht rein!
Ich war ganz aufgeregt, weil das erst unser zweites Gruppentreffen war und ich hab noch versucht, uns einen Tee zu machen, während die anderen drumherum standen und nicht so recht wussten, was sie tun sollten. Ich hab sie schon mal in den Gruppenraum geführt, weil ich mir echt dumm vorkomme, wenn sie alle auf mich schauen, während ich da rumwerkel. Besagtes Mädchen kam mir dann zu Hilfe und hat beim Tragen der Tassen geholfen.
Das Gruppentreffen selber hat einiges freigelegt. Wir haben über alles gesprochen, über was man so sprechen kann. Mütter, die versuchen ihre Kinder zu vergiften, Väter, die gewalttätig sind, Heroinabhängigkeit, Suizidversuche und der verzweifelte Versuch, sich mit Anfang zwanzig zu sozialisieren, wo es als Kind und Teenager nicht geklappt hat. Manch einer würde von den Themen abgeschreckt sein. Wir hatten aber alle das Gefühl, dass es ein Segen ist, so offen und ohne Bewertung über diese Themen sprechen zu können. So war das Feedback am Ende der Runde. Ich ging nach Hause mit dem intensiven Gefühl, geliebt zu sein. So fühlt es sich an, wenn man am richtigen Ort zur richtigen Zeit ist. Jetzt hab ich massive Motivation, diese Gruppe voranzubringen!
Dem Mädchen muss es während des Gruppentreffens aufgefallen sein, dass ich sie immer mal so angeschaut hab. Ich fühle mich ganz klar zu ihr hingezogen! Am Wochenende nach dem Treffen habe ich sie deswegen mal angeschrieben. Und da schau her, sie war regelrecht begeistert davon, dass ich mich melde und hat gleich selber vorgeschlagen, dass wir uns mal treffen. Ich konnte es kaum fassen! Nicht nur hat sie prompt reagiert, sie hat sogar das Treffen mit ihren Freunden abgesagt, um sich mit mir zu treffen. Sie meinte, sie hatte einen Energieschub nach dem Gruppentreffen und genauso ging es mir auch. Also haben wir uns zu einem Waldspaziergang verabredet.
Das Treffen verging wie im Flug, ich hatte kein Gefühl für Zeit, während wir zusammen waren. Das war fast wie unser Gruppentreffen. Ich hab mich beschwingt gefühlt und bin erfüllt nach Hause gegangen.
Es ist allerdings auch hängengeblieben, dass unsere Werte und Zukunftsvorstellungen, genau wie eigentlich alles andere total entgegengesetzt sind. Es könnte fast nicht unterschiedlicher sein. Ich gehe seit einem Jahr wieder regelmäßig in die Kirche und lese in religiösen Schriften, d.h. die Bibel und andere. Meine Vorstellung von der Zukunft ist altmodisch und konservativ. Ich bin sogar inzwischen von der Idee überzeugt, dass kein Sex vor der Ehe das richtige ist, für mich zumindest.
Sie hingegen ist nihilistisch, sie glaubt an die Erlösung in der Nicht-Existenz. Sie ist fest davon überzeugt, dass sie mit 27 sterben wird und dass sie eine Reinkarnation von Kurt Cobain ist. Ihre Musik, ihre Musik und wie sie sich ausdrückt, es handelt alles von der Schlechtigkeit der Menschen, vom Leid und dem Bedürfnis, sich zu rächen.
Nicht gerade eine gute Voraussetzung, wenn man sich jetzt denkt, dass wir zusammen kommen könnten. Vielleicht sollten wir das aber gar nicht. Sondern weiter im Sinne der Selbsthilfe zusammen kommen und der Idee, dass wir befreundet sind und uns gegenseitig helfen. Schließlich haben wir auch jede Menge gemeinsam!
Jetzt habe ich mich erstmal eine Woche von ihr ferngehalten. Sie hat mir ab und zu mal geschrieben und ich hab sie jedes Mal mehr oder weniger abgewimmelt. Ich hab registriert, dass sie an Kontakt interessiert ist und fühle mich damit überfordert. Ich bin ja auch kaputt und komplett irre. Vielleicht ist es irrational, wenn man darüber nachdenkt, weil ich sie extrem vermisse!
Die Frage ist: Was ist in dieser Situation rational? Gibt es das überhaupt? Kann jemand, der an nichts glaubt, etwas anderes als Leid bringen? Kann mein Glaube mir helfen, ihr zu begegnen und nicht in den gleichen Strudel zu geraten? Ist es vielleicht sogar möglich, dass wir einen positiven Einfluss aufeinander haben?