Interessanter als der Monolog von Kanitscheider ist das Streitgespräch mit dem Theologen Lüke (Spektrum der Wissenschaft 6/2000, S. 82):
Lässt sich die Frage nach Gott mit der Wissenschaft vereinbaren?
Das ganze Gerede über Gott kann man sich schenken.
"Ob der Satz, es gebe die Wahrheit, wahr ist, können Sie nur unter Voraussetzung der Wahrheit entscheiden. Auf dieser Ebene würden Theologen den Gottesbegriff ansetzen, wenn sie sagen, Gott ist die Wahrheit."
Der Satz verweist also auf etwas, was jenseits der Logik liegt, bedient sich aber der Sprache und Logik und ist damit eine offene Flanke für den Kanitscheider.
Das bringt den Luke ins Straucheln.
An der Stelle, wo er das Wittgenstein-Zitat bringt, zeigt er allerdings, dass er nicht zu unterschätzen ist:
»Die Lösung des Rätsels des Lebens in Raum und Zeit liegt außerhalb von Raum und Zeit. Es gibt allerdings Unaussprechliches. Dies zeigt sich, es ist das Mystische.«
Dieser Satz ist wesentlich gelungener. Er verweist auf etwas, was jenseits der Grenze von Logik und Sprache liegt, daher nicht sinnvoll darüber gesprochen werden kann.
Das dieser mystische Standpunkt kein Hokuspokus ist, kann eigentlich jedem denkenden Menschen einleuchten: Kanitscheider richtet den Blick immer nach außen auf die objektive Welt, findet darin erwartbar nichts Mystisches und baut sein Weltbild darauf auf. In dem Moment, wo man seine Wahrnehmung nach innen richtet, findet man sehr wohl das Mystische im eigenen Ich. Man kann dann sehr wohl seine Empfindungen, seine Abneigungen und seine Motive wahrnehmen und auch wissenschaftlich erforschen, man stößt aber nicht auf den Kern des eigenen Ichs. Dieser kann nicht im Lichte des Bewusstseins betrachtet werden, wie das Auge nicht im eigenen Sichtfeld vorkommt. Und das ist eben jene Grenze der Wissenschaft, wo das religiöse Gefühl ansetzt, was überhaupt nichts mit der Existenz eines Gottes zu tun haben muss, sondern eher sowas wie die Anerkennung des Wunders der Existenz ist.